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02.12.2002 - Tagesspiegel -

02.12.2002 - Berliner Tagesspiegel
Mathe auf Deutsch, Sachkunde auf Türkisch

In der Aziz-Nesin-Grundschule in Kreuzberg lernen die Kinder zweisprachig – ein Modell, das Schüler aus ganz Berlin anzieht

Von Jeannette Goddar

Schulen machen sich fit für die Zukunft - und der Tagesspiegel ist dabei. Nach dem schlechten Abschneiden Berlins bei der Pisa-Studie stellen wir Schulen vor, die Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Kreativität groß schreiben. In dieser Folge besuchen wir die Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg.

Die Schule. Wenn Heidi Riehm in ihre Klasse kommt und fragt, wie das Wochenende war, tut sich mancher ganz schön schwer. Einige Kinder aus türkischen Familien sprechen genauso gut deutsch wie ihre Lehrerin, manche aber nicht. Wenn sie nicht weiterkommen, hilft Heidi Riehm, die sieben Jahre in der Türkei gelebt hat, auch einmal mit dem türkischen Wort aus. Noch schwerer aber fällt der Unterricht den Schülern im Nachbarraum: Die müssen ihre Geschichten auf Türkisch erzählen. Unter ihnen sind Kinder türkischer Eltern, die besser deutsch als türkisch sprechen. Aber auch Deutsche, die bis zur Einschulung höchstens beim Bäcker Türkisch gehört haben.

Die Aziz-Nesin-Schule in der Kreuzberger Urbanstraße ist eine von 30 Europaschulen in Berlin. Von der ersten bis zur sechsten Klasse werden 340 Schüler hier in Deutsch und Türkisch unterrichtet. In diesem Schuljahr ist zum ersten Mal eine Klasse nahezu komplett auf die nahe gelegene Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule gewechselt. Dort können Schüler das deutsche und das türkische Abitur machen.

Der Unterricht: Wer sich an der Aziz-Nesin-Schule anmeldet und nicht aus einer deutsch-deutschen Familie kommt, wird erstmal auf seine Sprachkenntnisse durchleuchtet. Wer besser Deutsch kann, bekommt die „Schwerpunktsprache" Deutsch, die anderen Türkisch. Alphabetisiert wird in der Schwerpunktsprache. Die andere, hier „Partnersprache" genannt, lernen sie in der ersten Klasse drei Stunden pro Woche, in der dritten Klasse dann schon sechs Stunden pro Woche. Alle Fächer außer Deutsch und Türkisch haben die Kinder gemeinsam: Mathematik auf Deutsch, Sachunterricht auf Türkisch, Kunst und Musik in beiden Sprachen.

Die Aziz-Nesin-Schule ist ein echtes Erfolgsmodell bilingualer Erziehung. Das hat aber auch mit den für eine Kreuzberger Schule zwischen Prinzenbad und Südstern geradezu paradiesischen Voraussetzungen zu tun: die Europaschule hat kein direktes Einzugsgebiet. Wer sein Kind hierher schickt, tut das freiwillig, hat sich gründlich informiert - und das tun in der Regel nur Bildungsbewusste. Außerdem finden zehn bis 14 Stunden Sprachunterricht wöchentlich in geteilten Gruppen mit höchstens 14 Schülern statt.

Und wer etwas in der einen Sprache nicht versteht, kann es erst einmal in der anderen Sprache lernen. Doch auch das Konzept, schwören die Lehrer, hat sich bewährt. Sie argumentieren, wer in seiner eigenen Sprache lesen und schreiben lerne, tue sich auch mit der Zweitsprache leichter. Und: „Hier werden Kinder nicht nur mit ihrer Sprache, sondern auch mit ihrer Kultur ernst genommen", sagt die stellvertretende Schulleiterin Heidi Riehm. „Deswegen lernen sie auch lieber." Einerseits. Andererseits sind türkische Eltern auch oft die ersten, die fordern, möglichst viel Deutsch zu sprechen.

Der Schule geht es aber nicht nur um das möglichst intelligente Sprache-Schmieden, sondern auch um das deutsch-türkische Verhältnis. Wo Kreuzberg schon ein ebenso türkischer wie deutscher Kiez ist, will man auch das Verständnis fördern – und zwar über das hinaus, was man gerne Toleranz nennt. Im Idealfall sollen die deutschen Kinder mehr von ihren Mitschülern begreifen, als nur „warum die nicht Weihnachten feiern und was Oma und Opa aus Anatolien nach Berlin verschlagen hat". Interkulturalität, sagen die Pädagogen an der Schule, sei etwas anderes: Den anderen nicht nur als gleichwertig betrachten, sondern ernst nehmen, begreifen, von ihm lernen.

Die Eltern: Am Anfang hatte die deutsch-türkische Europaschule ein geradezu absurdes Problem: Türkische Eltern fehlten. Erstens, weil es nicht nur ein Klischee ist, dass nur wenige türkische Eltern sich gezielt nach einer Schule erkundigen. Und zweitens, weil denen, die Erkundigungen einholen, Deutsch häufig wichtiger ist als Türkisch. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass Schüler hier nicht nur Türkisch lernen - nun mangelt es an deutschen Eltern, um die Fifty-Fifty-Quote strikt einzuhalten.

Deutsche Eltern, die ihr Kind anmelden, tun das in der Regel nicht, weil sie sich nichts sehnlicher wünschen, als dass ihr Nachwuchs fließend Türkisch lernen möge. Stattdessen überzeugte Iris White, die gleich zwei Kinder hier unterbrachte, das interkulturelle Konzept.


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