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08.10.2002 - Berliner Zeitung -

08.10.2002 - Berliner Zeitung
"Wir haben mittlerweile alle ein italienisches Temperament"

Unterricht in zwei Sprachen - das gibt es an Berlins Europaschulen seit zehn Jahren / Die Kinder profitieren davon gleich mehrfach

Munter rutschen die Kinder auf ihren Stühlen hin und her. Beim Reden gestikulieren sie ausgelassen auf eine Art, die Besucher eher an den letzten Sommerurlaub in der Toskana denken lässt als an ein deutsches Klassenzimmer. "Wir haben mittlerweile alle ein italienisches Temperament", sagt die 12-jährige Franziska. Die Kinder der Klasse 7e des Albert-Einstein-Gymnasiums in Neukölln kennen sich schon lange. Seit der ersten Klasse werden sie zusammen auf Deutsch und Italienisch unterrichtet. Jeweils die Hälfte der Kinder sind italienische beziehungsweise deutsche Muttersprachler. Sie sind Teil eines bilingualen Schulprojekts, das vor zehn Jahren begann.
1992 wurden für Englisch, Französisch und Russisch je zwei Vorklassen an Grundschulen eingerichtet. Die ersten italienischen Europaklassen entstanden 1994. Berlins Bildungssystem sollte nach dem Mauerfall internationaler werden - das war der Ursprungsgedanke der Europaschulen. Auf der Suche nach einer geeigneten Schulform fiel der Blick der Initiatoren vom Schulamt auf das amerikanische John F. Kennedy Gymnasium in Zehlendorf. "Uns gefiel die Idee Kinder in zwei Sprachen zu unterrichten", sagt Dagmar von Loh, damalige Oberschulrätin am Landesschulamt und Mitbegründerin der Europaschulen. Dass die Wahl zunächst auf Englisch, Französisch und Russisch fiel, ist auf die Geschichte der Stadt zurückzuführen: die erforderlichen Muttersprachler waren in den früheren Besatzungszonen leicht zu finden.
Inzwischen gibt es in Berlin 30 Europaschulen, 16 Grundschulen und 14 Oberschulen. Zur Auswahl stehen neun Sprachen, unter anderem auch Polnisch und Türkisch. Die Schüler sollen an den Europaschulen nicht nur zweisprachig unterrichtet werden, sondern auch den Umgang mit anderen Kulturen lernen. Mit zum Programm gehören Klassenfahrten ins Ausland. So soll das Verständnis für das Fremde gefördert werden. Offenbar mit Erfolg: "Die Kinder der 7e sind sehr offen und daran gewöhnt Unbekanntem ohne Scheu zu begegnen", sagt Daniela Felicioli, Lehrerin am Albert-Einstein-Gymnasium.
Trotzdem gab es viele Probleme. Das größte war die ungleiche Bezahlung der muttersprachlichen Lehrer. Sie erhielten auf Grund des komplizierten deutschen Tarifrechts bis zu 500 Euro weniger im Monat. Die Prozesse an deutschen Gerichten haben die meisten Betroffenen verloren. Fünf Prozesse sind noch offen. Mit einigen Ländern, zum Beispiel Portugal oder Italien, hat der Senat Verträge zur Finanzierung der Europaschulen abgeschlossen. Darin sichern die Länder dem Senat zu, die Personalkosten für Lehrer der jeweiligen Sprache zu übernehmen. Durch die Teilung der Personalkosten belasten die Europaschulen den Senatsetat weniger als die Regelschulen.
Für die Schüler der 7e liegen die Vorteile, zwei Sprachen fließend zu sprechen, auf der Hand: "Ich übersetze immer zwischen meiner deutschen Mutter und meiner italienischen Oma", erzählt Manuel. Viele der Kinder stammen aus deutsch-italienischen Mischehen, einige haben nur italienische oder nur deutsche Eltern. Bestimmte Aufnahmekriterien für die Europaschulen gibt es nicht. "Wenn es mehr Anmeldungen als Plätze gibt, entscheidet das Los", erläutert von Loh das Verfahren. Das ist oft für die deutsche Gruppe der Fall. Kinder der Partnersprache, die eine Europaschule besuchen wollen, kriegen dagegen immer einen Platz. Ob ein Kind der bilingualen Ausbildung gewachsen ist, wird in der Vorklasse festgestellt. "Nur etwa 50 Prozent aller Kinder eignen sich dazu. Bei den übrigen könnte es wegen Sprachproblemen zu schlechten Schulleistungen kommen", sagt Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität.
In der Vorklasse wird den Kindern die unbekannte Unterrichtssprache spielerisch beigebracht. Zeigen sich Probleme, sollten die Kinder in eine Regelschule geschickt werden. Jedes Jahr verlässt mindestens ein Kind pro Klasse die Europaschule wegen Sprachproblemen. Erst in der Sekundarstufe treten keine Schwierigkeiten mehr auf. Ein Schulwechsel ist relativ unproblematisch, weil die Europaschulen den gleichen Lehrplan haben wie die Regelschulen. Die übrigen Kinder kommen mit der zweisprachigen Ausbildung gut zurecht. "Andere Fremdsprachen lernen sie sogar schneller als ihre Altersgenossen der Regelschule", sagt Daniela Felicioli. Da der Schulversuch erst seit zehn Jahren läuft, gibt es noch keine Abiturienten.
Die ältesten Europaschüler sind jetzt in der zehnten Klasse. Wenn die Kinder der 7e das Abitur haben, werden sie in Italien studieren können. "Ich hätte Lust in Italien zu wohnen", sagt Lesley, "da sind die Leute netter und das Essen schmeckt besser."
Zweisprachig Lernen // Das Projekt: In den Berliner Europaschulen werden die Kinder zweisprachig unterrichtet. Die Klassen bestehen je zur Hälfte aus Kindern mit Deutsch und solchen mit der Partnersprache als Muttersprache.
Das Ziel: Die Kinder sollen über die Sprache den offenen Umgang mit anderen Kulturen lernen. Klassenfahrten in das Land der Partnersprache gehören zum Pflichtprogramm.
Die Sprachen: Es ist möglich, Deutsch mit Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch oder Türkisch zu kombinieren. Die Schüler lernen die Sprachen in getrennten Gruppen. Kinder ohne bilinguale Erziehung müssen die Vorklasse besuchen, wo sie die unbekannte Unterrichtssprache lernen können.
Der Unterricht findet, nach Fächern aufgeteilt, in zwei Sprachen statt. In der Grundschule wird zum Beispiel Mathematik auf Deutsch, Sachkunde dagegen aber in der Partnersprache unterrichtet.
Die Lehrer unterrichten grundsätzlich in ihrer Muttersprache. Das bedeutet, dass für den Unterricht in der jeweiligen Partnersprache extra Muttersprachler eingestellt werden.
Die Schulen: Die Europaschulen sind an Regelschulen integriert und bieten Ganztagsbetreuung an. Insgesamt gibt es in Berlin 30 staatliche Europaschulen. Pro Jahrgang sind jeweils zwei Klassen für Europaschüler vorgesehen. Die Einrichtung weiterer Europaschulen ist zur Zeit nicht vorgesehen.
"Nur 50 Prozent der Kinder eignen sich für die zweisprachige Erziehung. " Dieter Lenzen, Erziehungswissen-schaftler an der FU.
BERLINER VERLAG/TURTENWALD Schulen wie die Deutsch-Türkische Europaschule in Kreuzberg sollen den offenen Umgang mit den Kulturen fördern.

Der Artikel ist erschienen am 08. Oktober 2002
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